Der Urvater der Stammbäume findet sich in Charles Darwins umwälzenden Werk «Über den Ursprung der Arten». Solche Stammbäume geben Aufschluss über die Evolution und die Verwandtschaftsverhältnisse von Arten, von einfachen Zellen bis zu komplexen Lebewesen. Die Länge der Äste, die zwei Organismen in einem Stammbaum trennen, zeigt an, wieviel Zeit seit dem letzten gemeinsamen Vorfahren vergangen ist. Bei Bakterien rekonstruiert man die Stammesgeschichte heutzutage hauptsächlich auf Basis von Unterschieden im Erbgut. Je ähnlicher ihr Genom, desto kürzer der Zeitraum bis zum letzten gemeinsamen Vorfahren.
Der wissenschaftliche Konsens, dass phylogenetische Stammbäume von Bakterien deren verwandtschaftlichen Beziehungen darstellen, stellt das Team um Prof. Erik van Nimwegen am Biozentrum, Universität Basel nun in Frage. «Dieses Projekt beschäftigte uns fast zehn Jahre. Nun konnten wir endlich eines der grossen Rätsel der Evolution von Bakterien-Genomen knacken», sagt van Nimwegen «Um es in einem Satz zusammenzufassen, wir haben herausgefunden, dass phylogenetische Stammbäume nicht das abbilden, was die meisten bisher angenommen haben.»
Stammbaum lässt nicht auf Vorfahren schliessen
Die Rekonstruktion eines phylogenetischen Stammbaums anhand von Genomsequenzen beruht auf der Annahme, dass die Gene und mit ihnen die Mutationen bei der Teilung von der Mutter- an die Tochterzelle weitergereicht werden. Zwar geben Bakterien tatsächlich ihre Gene von einer Generation zur nächsten weiter, dies ist aber nicht der einzige Weg. Bakterien übertragen Gene auch untereinander. Durch diesen sogenannten «horizontalen» Gentransfer werden beispielsweise Antibiotika-Resistenzen an andere Erreger weitergegeben.
Obwohl dieser Genaustausch seit langem bekannt ist, gingen Forscher bisher davon aus, dass dies für die Rekonstruktion eines Stammbaums keine grosse Rolle spielt. Mithilfe neuer Methoden konnten die Forscher um van Nimwegen nun zeigen, dass dies ein Irrtum ist und auf der falschen Annahme beruht, dass alle Bakterien innerhalb einer Spezies ihre DNA gleich häufig austauschen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Verschiedene Bakterien tauschen ihre DNA in unterschiedlichem Masse.
Evolution des Bakterien-Genoms beruht auf Genaustausch
In der kürzlich in «eLife» erschienenen Studie berichten die Forschenden, dass der Stammbaum weniger die Evolution nachzeichnet, als vielmehr die Rate mit denen Bakterienstämme ihre Gene weitergeben. «Bakterien tauschen so viel DNA untereinander aus, dass die Evolution ihres Genoms vollständig auf diesem Gentransfer beruht», sagt van Nimwegen. «Die Stammbäume, die man anhand von Genom-Sequenzen erstellt, bilden also nicht ab, wann die Bakterien den letzten gemeinsamen Vorfahren hatten, sondern wie ausgiebig sie miteinander ihre Gene ausgetauscht haben.»
Evolution verläuft nicht entlang eines Stammbaums
Anstatt dass sich Genomveränderungen entlang der abzweigenden Äste im Stammbaum bewegen, geschieht dies überwiegend quer, von Ast zu Ast und zeigt den Transfer von einzelnen oder mehreren Genen zwischen Bakterien. «Unsere Erkenntnisse verändern die Art und Weise, wie wir über die Evolution von Bakterien-Genomen denken», meint van Nimwegen «Sie implizieren aber auch, dass die Genomdaten und die daraus rekonstruierten Stammbäume seit mehr als zwanzig Jahren falsch interpretiert wurden.» Die Arbeit stellt insbesondere Evolutionstheoretiker vor eine schwierige Aufgabe, da neue Modelle benötigt werden, um zu verstehen, wie sich Bakteriengenome weiterentwickeln.
Originalpublikation:
Thomas Sakoparnig, Chris Field, Erik van Nimwegen. Whole genome phylogenies reflect the distributions of recombination rates for many bacterial species. eLife (2021)
Kontakt: Kommunikation, Katrin Bühler