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Prof. Flavio Donato über die Geheimnisse unseres Gedächtnisses

Warum bleiben uns manche Momente lebhaft im Gedächtnis, während andere wie verschwunden scheinen? Wir haben mit Flavio Donato darüber gesprochen, wie das Gehirn Erfahrungen speichert – und ob vergessene Erinnerungen wirklich gelöscht oder nur verborgen sind.

Wo sind unsere Erinnerungen gespeichert?
Man könnte sagen, dass alles überall und gleichzeitig ist. Das Gehirn ist ein eng verwobenes Netzwerk aus Nervenzellen. Die Neuronen, die für die Entstehung, Speicherung und den Abruf von Erinnerungen zuständig sind, liegen in vielen verschiedenen Hirnbereichen. Anders ausgedrückt: Die Frage ist nicht, wo Erinnerungen gespeichert werden, sondern wo sie nicht gespeichert werden. Wenn man etwas erlebt, kann jeder Aspekt dieses Erlebnisses Teil der Erinnerung sein: was man riecht, was man sieht, was man fühlt. Weil sich die Informationen in unterschiedlichen Teilen des Gehirns befinden, haben wir vielleicht eine Art Bibliothekar, der die Teile zu Erinnerungen zusammenfügt. Dieser Bibliothekar befindet sich möglicherweise im Hippocampus, ein Bereich im Gehirn, den wir auch in unserer Forschung untersuchen.

Doch wann wird Erlebtes zur Erinnerung?
Gute Frage! Wie lernen wir? Und wie entscheidet unser Gehirn, was langfristig gespeichert werden muss und was vergessen werden kann? Eigentlich kennen wir die Regeln dafür immer noch nicht. Was wir aber sagen können, ist, dass es bestimmte Aspekte gibt, die es wahrscheinlicher machen, dass eine Information zu einer Erinnerung wird. Dinge, die neu sind, Dinge, die man nicht erwartet, Dinge, die emotional aufgeladen sind, zum Beispiel mit einem Thema, das für uns mit Ängsten verbunden ist, oder Dinge, die für unser Überleben wichtig sind.

Warum haben wir Erinnerungen?
Es gibt eine Hypothese, die ich faszinierend finde und der ich zustimme: Sie besagt, dass wir Erinnerungen nicht haben, um uns hinzusetzen und über die Vergangenheit nachzudenken. Unsere Erinnerungen sind dazu da, um aus unseren Erfahrungen zu lernen und sie zu nutzen. Um also vorhersagen zu können, was in der Zukunft passiert. Ein Gedächtnis ist also nicht für die Vergangenheit da, sondern ein Werkzeug, mit dem wir lernen zu überleben und die Folgen unseres Handelns vorherzusagen.

Alles in allem vergessen wir mehr, als wir uns merken. Warum eigentlich?
Nun, auch das ist eine gute Frage. Zunächst dachte man, dass das Vergessen ein passiver Prozess sei und nur bereits lange vergangene Erinnerungen betrifft. Wenn man diese Erinnerungen nicht abruft, verliert man sie.  Heute sind sich die Forscher jedoch ziemlich sicher, dass das Vergessen ein aktiver Prozess ist. Modelle, mit denen unser Gehirn die Umwelt interpretiert, werden dabei ständig verändert und den neuen Erfahrungen angepasst.

Was bedeutet also Vergessen? Verlieren wir Informationen oder sind sie nur versteckt?
Dies ist eine wichtige Frage, die meinem Labor sehr am Herzen liegt: Ist eine vergessene Erinnerung vollständig verloren, oder haben wir nur keinen Zugang mehr zu ihr? Wir wissen, dass es möglich ist, Erinnerungen wiederherzustellen, die scheinbar ausgelöscht wurden. Dies scheint zu beweisen, dass Erinnerungen, die wir vergessen haben, noch vorhanden sein könnten: So könnten beispielsweise Erinnerungen an unsere frühe Kindheit noch in unserem Gehirn vorhanden sein und wir könnten sie mit geeigneten Mitteln wieder hervorholen.

Und warum ist es für unser Gehirn wichtig, dass nicht alle Informationen zugänglich sind?
Auch das wissen wir nicht. Ist dies ein Fehler oder eine Fähigkeit? Das ist eine wirklich faszinierende Frage: Warum würde sich das Gehirn die Mühe machen, uns etwas vorzuenthalten, wenn es nicht einen guten Grund gäbe, buchstäblich Energie in diesen Prozess zu investieren? Das ist die Art von Frage, die wir mit unserer Forschung lösen wollen.

Was ist die erste Erinnerung, an die du sich selbst erinnerst?
Soweit ich mich erinnern kann, ist meine erste Erinnerung ein Picknick in den Bergen mit meiner Familie, als ich ungefähr zwei oder drei Jahre alt war. Damals bin ich gestürzt und habe mir die Nase an einem Stück Holz angeschlagen. Ich weiss noch, dass meine Nase zu bluten begann, und ich erinnere mich an den Geruch, den Schmerz, die Bilder und die Farbe des T-Shirts, das ich trug.

Stimmt diese Erinnerung?
Meine Mutter sagt, dass dies eine echte Erinnerung ist, aber eigentlich weiss ich es nicht, denn ich habe die Geschichte dazu schon oft gehört. Das ist das Tückische an Erinnerungen: Man kann nicht absolut sicher sein, dass sie zu 100 % korrekt sind. Manchmal sind die Dinge, die wir als Erinnerungen bezeichnen, nur Bilder, die wir in unserem Kopf heraufbeschwören. Wir passen damit unsere Erinnerung den Erzählungen an und geben ihnen damit eine besondere Bedeutung.

Forschungsgruppe Flavio Donato