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«Habe den Mut, den eigenen Weg zu gehen.»

December 2025

Anna Seelig hat an der Seite ihres Ehemannes Joachim Seelig fünf Jahrzehnte am Biozentrum geforscht. Im Gespräch erzählt sie von ihrer Kindheit auf dem Land und wie es damals als Frau in der Forschung war. Ihre Biographie ist eine Geschichte vom Anderssein und vom Mut, den eigenen Weg zu gehen.    


Du bist immer noch häufig hier zu sehen. Fühlst du dich dem Biozentrum noch verbunden?
Ich darf hier am Biozentrum noch einen Schreibplatz, einen Stuhl und einen Computer im Büro von Susanna Notz benutzen, dafür bin ich sehr dankbar. Ich schreibe immer noch Artikel und Reviews. Erst kürzlich habe ich einen bei «Biochimica et Biophysica Acta» eingereicht1. Es ist ein wissenschaftlicher und zugleich auch persönlicher Artikel in Erinnerung an Joachim. Manchmal besuche ich auch Veranstaltungen, zuletzt Stephan Grzesieks Abschiedssymposium. Über unsere Arbeit waren wir verbunden, deshalb war es mir wichtig hinzugehen. 

Du bist in der Schweiz geboren. Welche Erinnerungen hast du an deine Kindheit? 
Meine frühesten Kindheitserinnerungen habe ich von Genf. Dort lebten wir bis ich fünf Jahre alt war. Diese Zeit war paradiesisch – wir hatten ein Haus mit grossem Garten, der direkt an den Fluss Arve grenzte. Auf der anderen Seite des Flusses lag Frankreich. Ich bin dort sehr behütet aufgewachsen.

Was haben deine Eltern gemacht?
Mein Vater, Hans Löffler, war Mediziner und Mikrobiologe und meine Mutter, Anna Maria Löffler-Pfister, wie damals typisch, Hausfrau. Sie hätte gerne Botanik studiert, durfte aber nicht, weil sie meinen Vater schon im Tanzkurs kennen gelernt hatte. Da hiess es: Sie wird bald heiraten, also braucht sie nicht zu studieren. Sie hatte dann eine Ausbildung zur Krankenschwester absolviert. Ihre Liebe zu Pflanzen hat sie später in ihren Gärten ausgelebt.

Und wo habt ihr nach der Zeit in Genf gelebt?
Meine Eltern sind mit uns – mir, meiner Schwester und meinem Bruder – aufs Land gezogen, in die Nähe von Bern. Für meine Mutter war es ein Kulturschock, sie kam aus Zürich. Wir fühlten uns wie Fremde und spürten, dass wir irgendwie nicht dazugehörten.

An was denkst du konkret?
Im Winter hatten wir zum Beispiel einmal eine Theateraufführung. Wir waren Schneeflöckchen und sollten alle ein weisses Röckchen anziehen. Ich hatte aber keins. Hätte ich meine Mutter gefragt, hätte sie mir mein ecru-farbenes, besticktes Röckchen empfohlen, das so anders war.  Also zog ich das an, was ich die ganze Woche schon anhatte, ein dunkelbraun-rot kariertes Kleid. Die Lehrerin hat mich entsetzt angeschaut, aber ich musste trotzdem auf die Bühne. Dann war ich das einzige dunkelbraune Schneeflöckchen zwischen den ganzen weissen. Mit der Zeit habe ich irgendwie gelernt damit umzugehen, immer mal wieder etwas aus der Reihe zu fallen, auch dank der etwas unkonventionellen Art meiner Eltern. Als ich 15 war, sind wir nach Riehen bei Basel gezogen.

 

Wurde es dann einfacher?
Auch hier war das Ankommen erst nicht so leicht. Ich sprach Französisch und Berndeutsch, aber nicht den Basler Dialekt. Ich habe heimlich nachts geübt und versucht meinen Basler Grossvater Wilhelm Löffler nachzuahmen.  Mit der Zeit hat sich das Gefühl des Andersseins gelegt. Auch hatte ich gelernt mich nicht einengen zu lassen und zu versuchen, meinen eigenen Weg gehen.

In Basel warst du auf dem Gymnasium. War das damals üblich für ein Mädchen?
In Basel schon, in Bern nicht. Eigentlich sollte ich ein Lehrerseminar besuchen, weil ich gut mit Kindern umgehen konnte. Nur sehr wenige Schüler gingen damals in Bern schon mit 10 Jahren ans Gymnasium. Doch bei einer Mutprobe, bin ich von einem Dach gesprungen, und hatte meinen Rücken so verstaucht, dass ich fast ein Jahr nicht zur Schule gehen konnte. Danach kam ich auf eine private Schule und der Lehrer dort sagte: Die gehört ins Gymnasium. Der Unfall war am Ende also ein Glücksfall. In Basel ging ich dann ins Mädchengymnasium am Kohlenberg.

Und nach der Matur wolltest du Medizin studieren…
Anfangs wollte ich Theologie studieren. Philosophie und Religionen, das hat mich alles beschäftigt. Wir hatten eine der ersten Theologinnen als Lehrerin, mit ihr haben wir viel diskutiert. Doch schliesslich habe ich mich für Medizin entschieden. Ich dachte, das ist sicher nicht falsch, da kann man etwas Gutes tun. Doch ein Praktikum am Kinderspital in Genf bei zerebral gelähmten Kindern und ein Studentenjob als Nachtwache hier am Kantonsspital haben mir die Augen geöffnet. Ich konnte die Situationen mit den Schwerstkranken kaum ertragen, fühlte mich hilflos und nutzlos. Mir ist dann klar geworden, dass Medizin nichts für mich ist und dass es mir darum geht, etwas von Grund auf zu verstehen.

Wie bist du zur Chemie gekommen?
Schon im Medizinstudium habe ich gemerkt, dass mich Chemie interessiert. Ich habe dann meinen Vater gefragt, was er davon halte. Und er meinte: «Ja, warum nicht, wenn dich das interessiert». Das hat mich bestärkt. Und so bin ich von der Anatomie in die Anorganik nebenan gezogen.

Wie war der Wechsel?
In der ersten Woche kam Prof. Fallab ins Praktikum. Er kannte mich schon von den Medizinervorlesungen und fragte: „Fräulein Löffler, was machen Sie denn hier?“ Ich sagte: „Ich studiere jetzt Chemie und möchte später Biochemie machen.“ Er antwortete: „Studieren Sie richtige Chemie und lassen Sie diesen Dreck.“ So sprach man damals. Frauen gab es nur sehr wenige, aber das hat mich nicht gestört. Im Studium kam ich schnell voran, nach sieben Semestern war ich fertig, schwieriger wurde es erst später.

Inwiefern?
Forschung hat mich fasziniert. Ich wollte daher weitermachen und promovieren. So habe ich mich für meine Dissertation unter anderem beim berühmten Prof. Eschenmoser an der ETH Zürich beworben. Er meinte, er hätte zwar noch nie eine Doktorandin gehabt, würde aber schon ein Thema für eine Frau finden.

Aber schliesslich bist du in Basel geblieben?
Ja, denn Gerhard Schwarz wurde kurz zuvor ans Institut für Physikalische Chemie berufen. Er sagte in der Vorlesung er suche Doktoranden und mache schnelle Kinetik und Kernmagnetische Resonanz (NMR). Während meines Studiums hatte ich in der Physik einen Zusatzkurs in NMR absolviert und wollte die Technik weiter vertiefen. Schwarz meinte dann, NMR mache er nicht selber, aber es käme da noch jemand aus Amerika, den würde er fragen. Ich solle in drei Wochen wiederkommen. Ich kam wieder und Schwarz sagte, der «Amerikaner» wolle mich nicht. Und so promovierte ich bei Gerhard Schwarz über schnelle Kinetik.

Und der «Amerikaner»?
Das war Joachim. Später stellte sich heraus, dass er nie gefragt worden war, eigentlich zu meinem Glück. Wir haben uns gleich gut verstanden. Und als er 1972 ans Biozentrum berufen wurde und das erste NMR-Gerät angeschafft hatte, arbeiteten wir zusammen. Endlich konnte ich NMR machen. 

Also Ende gut alles gut?
Nein, das wäre zu einfach. Joachim und ich hatten in der Zwischenzeit geheiratet und es hiess: Man kann nicht beim Ehemann arbeiten. Die Professoren auf dem Stockwerk sagten, ich dürfte bei ihnen, aber nicht bei Joachim arbeiten. Ich habe dann trotzdem bei Joachim gearbeitet und einfach auf den Lohn verzichtet. Wir konnten von einem Gehalt leben; arbeiteten viel und gaben wenig aus. Nach einem wissenschaftlich erfolgreichen Jahr, legte sich der Widerstand langsam. Vielleicht kam mir hier mein Training als Kind zu Gute, trotz Widerstand den eigenen Weg zu gehen.

Joachim and Anna Seelig (4. und 3. von rechts) an einer Biozentrum Party im Jahr 1978.


Als Ehepaar in der Forschung, habt ihr eure Arbeit daheim weiterdiskutiert?
Joachim hat das strikt getrennt. Er war sehr strukturiert, auch zeitlich. Abends hat er immer Literatur gelesen. Ich bin der Typ, der Tag und Nacht über Wissenschaft reden könnte, ich denke innerlich immer weiter. Und mit drei Kindern und Teilzeitarbeit konnte ich oft erst am Abend loslegen - schreiben war Entspannung. Joachim hat mich bewusst unabhängig werden lassen.

Als Frau zu arbeiten, war gesellschaftlich noch nicht akzeptiert. Hast du das zu spüren bekommen?
Kommentare gab es immer wieder. Ein Lehrer sagte bei der Einschulung meines ältesten Sohnes: „Ich hoffe, hier sitzt keine Mutter, die arbeitet.“ Wir haben leise gelacht, uns aber natürlich nichts anmerken lassen. Hier im Haus hat es eigentlich niemanden gross gekümmert.

Joachim hat damals das Marie Heim-Vögtlin Programm ins Leben gerufen, ein Förderprogramm für Mütter in der Forschung. Was gab den Ausschlag?
Ich habe nach der Geburt des dritten Kindes fünf Jahre ausgesetzt. Ich bekam dann ein unerwartetes Stellenangebot, was meine Rückkehr in den Beruf beschleunigte. Joachim hat mir dann auch eine Stelle angeboten, die ich gerne annahm und kam so problemlos wieder rein. Viele Mütter bekamen keine Chance weiterzuforschen. Und so kam Joachim auf die Idee für ein Stipendium, das im Rahmen des Schweizer Nationalfonds Wissenschaftlerinnen mit Familie den Wiedereinstieg erleichtern sollte. Joachim war ein Impulsgeber und Brückenbauer, auch zwischen der Wissenschaft und Industrie. Später schuf er die Werner-von-Siemens-Fellowships, heute heissen sie Biozentrum PhD Fellowships.

Du hast dich auch mit ethischen Fragen beschäftigt und später sogar einen Ethikkurs für Biologen und Pharmazeuten organisiert und gehalten. Wie kam es dazu?  
1998 stand die «Gen-Schutzinitiative» zur Abstimmung, die für den Forschungsplatz Schweiz zum Problem geworden wäre. Obwohl Genetik nicht mein Gebiet war, baten mich mehrere Zeitungen um Stellungnahmen – man dachte, die Ablehnung würde aus dem Mund einer Frau weniger harsch klingen. Nach der Ablehnung der Initiative wurde Bioethik in der Philosophischen Fakultät II thematisiert und ich wurde zur Ethikdelegierten gewählt. Am Biozentrum beschloss man einen Bioethikvorlesung einzuführen. Joachim, der damals «Obmann» war, sagte zu mir: «Mach Du das». Ich habe das gerne angenommen. Mein Interesse an Philosophie ist mir dabei zugutegekommen.

Bei so viel Engagement warst du sicher ein Vorbild für viele. Wie war es bei dir: Hattest du in deiner Karriere ein Vorbild?
Meine Grosstante, Martha Herzog, sie war eine der frühen Ärztinnen in Basel. Und meine Tante väterlicherseits Susanna Woodtli-Löffler. Sie hat ein interessantes Buch über die Frauen-Emanzipation geschrieben. Beim Blättern in diesem Buch stiess Joachim auf Marie Heim-Vögtlin, die erste Schweizer Ärztin, und benannte dann das Stipendium nach ihr.

Was würdest du jungen Forschenden auf den Weg geben?
Versuche herauszufinden, was dir wirklich gefällt. Und wenn es dir nicht gefällt, habe den Mut, das Fach zu wechseln. Frage stets nach dem «Wie» und «Warum». Und wenn dir Fragen oder Antworten beim Geschirrspülen oder Kochen einfallen, dann hast du den richtigen Beruf gefunden.

 

1 Anna Seelig. From lipid bilayers to the innate immune system. Contribution to the special Biochimica et Biophysica Acta issue dedicated to Joachim Seelig.