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Der philosophische Blick auf die Wissenschaft

Januar 2023

«Das Klischee vom einsamen Denker im stillen Kämmerlein mit den genialen Ideen hat noch nie gestimmt.» Biozentrum Alumnus Marcel Weber muss es wissen. Er ist Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Genf. Doch was heisst es, über die Wissenschaft zu philosophieren?


Was machen Sie als Wissenschaftsphilosoph?
Diese Frage höre ich von vielen Leuten: «Toll, Sie sind Philosoph, aber was machen Sie eigentlich.» (lacht), als wäre Philosophieren keine Tätigkeit. Meine Tätigkeit ist die philosophische Reflexion der Naturwissenschaften und in letzter Zeit auch verstärkt der Medizin. Mich interessieren dabei weniger ethische Fragen, sondern viel mehr das wissenschaftliche Denken. Wie funktioniert es, was sind seine Grenzen und welche Berechtigung hat es. Wie objektiv ist es und wie kann man den Objektivitätsanspruch begründen, der für die Wissenschaft ja immer gegeben ist. 

Welche Fragen sind gerade aktuell?
Vor allem Wertfragen. In Zusammenhang mit der Pandemie ist das Thema akut geworden. In meinem neuen Forschungsprojekt geht es darum, wie wert- oder politisch neutral wissenschaftliche Politikberatung sein kann – die Wissenschaft als Berater der Politik zu Fragen wie beispielsweise die Verbreitung einer Pandemie und die zu ergreifenden Massnahmen.

Und wie gehen Sie da vor?
Wie in der biologischen Forschung fängt man generell nicht bei Null an. Wir gehen von bekannten philosophischen Theorien und Überlegungen aus und versuchen diese auf neue Probleme wie eine Pandemie anzuwenden, sie weiterzuentwickeln oder ganz neue Thesen und Argumente aufzustellen. Als Philosophen gehen wir dabei nicht empirisch vor, das heisst, wir führen keine Umfragen oder soziologischen Studien durch. Wir machen Erfahrungen, wie alle Bürgerinnen und Bürger. Im Fall der Pandemie haben wir die Corona-Skepsis gesehen, grosse politische Debatten über die Massnahmen oder die politische Polarisierung. Von diesen Erfahrungen und Umständen ausgehend, stellen wir philosophische Überlegungen an.

Sind Sie in Bezug auf die Corona-Pandemie zu neuen philosophischen Erkenntnissen gekommen?
Da muss ich ein wenig ausholen. In der Philosophie gibt es die These der Wertneutralität der Wissenschaften. Sie besagt, dass bei der Beurteilung wissenschaftlichen Wissens sogenannte nicht-epistemische Werte keine Rolle spielen dürfen. Darunter versteht man Werte, die mit Ethik, Politik oder Vorstellungen von einem guten Leben zu tun haben. Doch wir haben schon seit längerem beobachtet, dass das in der Wissenschaftspraxis nicht immer geht.

Was heisst das konkret?
Die meisten wissenschaftlichen Ergebnisse sind mit Unsicherheiten behaftet. Bei der Beratung der Politik muss man also davon ausgehen, dass die Wissenschaft potenziell Fehler machen kann. Hier gibt es verschiedene Arten von Fehlern. Um beim Beispiel der Pandemie zu bleiben: man kann die Gefährlichkeit eines Virus über- oder unterschätzen.

…das hat natürlich Konsequenzen.
Genau. Aber vor allem sind diese beiden Fehler in praktischer Hinsicht nicht äquivalent. Wenn man die Gefährlichkeit überschätzt, riskiert man übertriebene Massnahmen mit schädlichen Folgen für die Wirtschaft, Gesundheit und das gesellschaftliche Zusammenleben. Unterschätzt man jedoch die Gefährlichkeit, riskieren wir viele Menschenleben. Klar, gute Wissenschaft variiert ihre Modellannahmen und denkt in Szenarien, wie immer wieder betont wird. Doch welche Ergebnisse man für ausreichend belastbar hält um kostspielige Massnahmen zu rechtfertigen hängt auch davon ab, wieviel auf dem Spiel steht. Das lässt sich nicht wertfrei beurteilen. Daher gehen wir heute davon aus, dass eine absolut wertfreie Politikberatung durch die Wissenschaft nicht möglich ist. Hinzu kommt, dass die Aussagen von Wissenschaftlern durch die Wissenschaftsfreiheit gedeckt sind. Für Fehler können und sollen sie nicht zur Rechenschaft gezogen werden. Fehler gehören zur Wissenschaft. Anders die Regierung und ihre Behörden, sie sind demokratisch legitimiert, werden politisch kontrolliert und auch zur Rechenschaft gezogen, zum Beispiel bei Wahlen. 

Wenn die Wissenschaft nicht unbedingt wertfrei berät, wie kann man sicherstellen, dass die Politik die Massnahmen umsetzt, die demokratisch legitimiert sind?
In der Theorie setzt die Politik die Ziele. In China war es lange Zeit die Null-Covid-Politik, in vielen westlichen Demokratien ging es darum, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu verhindern. Die Wissenschaft kann Vorschläge unterbreiten, wie diese Ziele erreicht werden. Dabei gibt es aber verschiedene Probleme.

Welche?
Erstens kann man die Ziele nicht unabhängig von den Mitteln und Kosten vernünftig setzen. Das führt unvermeidlich zu einem Dilemma, denn die Politik kann die Ziele nicht setzen, ohne zu wissen, wie effektiv die Mittel sind und was sie kosten. Idealerweise müssten Wissenschaftler und Politiker zusammensitzen und gemeinsam Beschlüsse fassen.

Und zweitens?
Nach den gängigen philosophischen Modellen erfordert die Beschlussfassung noch dazu eine Bürgerbeteiligung. Denn in diesem Prozess müssen die in der Bevölkerung vorherrschenden diversen und pluralistischen Werte abgebildet werden. Bei der Beschlussfassung müssten also auch Bürgervertreterinnen und -vertreter sitzen. Wenn es zum Beispiel um Schulschliessungen geht, sollten auch Lehrpersonen und Eltern involviert sein. Während der Pandemie haben wir jedoch die Erfahrung gemacht, dass wir keine Zeit haben alle ins Boot zu holen. Das hat dazu geführt, dass einige Experten auf eigene Faust Empfehlungen abgegeben haben, manchmal wie es schien ohne Absprache untereinander und ohne das Gespräch mit der Politik oder Öffentlichkeit zu suchen. Wir fragen uns, ob man das nicht besser machen könnte.

Wie kommt da ihre Arbeit ins Spiel?
Wir überlegen uns gerade ein neues Modell, wie man die Kommunikation verbessern könnte. Welche Arten von Empfehlungen sollten Wissenschaftler in einer solchen Situation herausgeben? An wen soll sich die Information richten? Sollte es eine Art wissenschaftliches Gremium geben, um erstmal intern zu einem Konsens zu kommen oder zu einer Mehrheitsempfehlung, die an Politik und Öffentlichkeit weitergegeben wird? 

Und das Ziel Ihrer Überlegungen ist…?
Herauszufinden, was die richtige und vernünftige Vorgehensweise bei einer zukünftigen Pandemie wäre. Ein Verfahren, das einerseits auf wissenschaftliche Erkenntnisse reagiert, sie adäquat einfliessen lässt und andererseits eben demokratisch legitimiert ist. Das ist die Herausforderung und das versuchen wir in ein Modell zu giessen.

Haben ihre Überlegungen aufgezeigt, was in der jetzigen Pandemie falsch gelaufen ist?
Ich übe keine Kritik und es steht mir auch nicht zu. Wir versuchen ein Gespür dafür zu bekommen, wie es in der Praxis abgelaufen ist und wie wir es in Zukunft besser machen könnten. Die Philosophie interessiert sich in erster Linie für Ideale, aber wir wollen natürlich, dass diese realisierbar sind.

Lassen Sie uns den Bogen zu Ihnen schlagen. Wie sind Sie zur Wissenschaftsphilosophie gekommen?
Mich haben schon immer philosophische Fragen interessiert. Schon seit meiner Zeit als Schüler am Gymnasium Oberwil. Das Fach wurde damals leider noch nicht angeboten und so habe ich mich auf eigene Faust eingelesen. Und auch während meines Biologie-Studiums habe ich die Philosophie weiter betrieben.

War ein Philosophiestudium dann nicht das Naheliegendste?
Nein, das war damals keine Option für mich. Mich hatte die Molekularbiologie einfach am meisten fasziniert. Philosophische Fragen, die mit den Naturwissenschaften zusammenhingen, haben mich dennoch ständig begleitet. In der philosophischen Tradition ist das nicht neu. Viele bedeutende Philosophen waren zugleich auch Naturwissenschaftler, man denke da nur an Aristoteles oder Leibniz. 

Und wie war das am Biozentrum? 
Ich hatte hier das Glück von einigen hervorragenden Wissenschaftlern unterrichtet zu werden, die sich selbst mit philosophischen Fragen beschäftigten. Dazu gehörte Jeff Schatz, bei dem ich mein Diplom machte. Er hatte immer auch grössere Überlegungen angestellt, die man durchaus auch als philosophisch ansehen kann. Ich war aber meistens anderer Meinung (lacht). Der andere war Werner Arber. Er hat auf mich einen grossen Einfluss ausgeübt. Ohne seine Unterstützung hätte ich diesen Weg nicht gehen können.

Inwiefern?
Wir haben zusammen diskutiert und philosophiert und auch Veröffentlichungen herausgebracht. Meine erste philosophische Publikation war eine Auseinandersetzung mit einigen seiner Ideen. Und ich habe durch seine Vermittlung den Konstanzer Wissenschaftsphilosophen Paul Hoyningen-Huene kennengelernt, der dann mein philosophischer Lehrer wurde. Da wurde mir erst richtig klar, dass man das auch als Beruf machen kann. Werner Arber hat es mir ermöglicht, ein Doktorat in Wissenschaftsphilosophie zu machen. Und vor vier Jahren hat er mich eingeladen, ihn zu einer Tagung der päpstlichen Akademie der Wissenschaften zu begleiten. Und dann durfte ich auch noch Papst Franziskus die Hand schütteln!

Sie sind nach Ihrer Promotion in Konstanz in die USA gegangen, nach Minneapolis. Warum?
Es ist vielleicht nicht so bekannt, aber dort befindet sich das bedeutendste Zentrum für die Philosophie der Biowissenschaften und eines der ältesten Zentrum für Wissenschaftsphilosophie in Nordamerika. Es wurde nach dem 2. Weltkrieg gegründet, teils auch von deutschen Philosophen, die aus Nazideutschland geflüchtet waren. Ich habe dort meinen Postdoc gemacht. Das war eine sehr wichtige Zeit für mich. Ein Ort mit viel Austausch, ein Knotenpunkt.

Sie haben zwei Söhne im Primarschulalter. Konfrontieren Ihre Kinder Sie auch mit philosophischen Fragen und Gedanken?
Ja, die sind sehr erfrischend. Doch meistens antworte ich eher als Papa. Die Kinder fragen natürlich auch, was ich mache. Am ehesten kann ich Ihnen meinen Beruf nahebringen, wenn ich sage, ich bin so etwas wie ein Lehrer. Die Antwort finden sie nicht super aufregend. Mit Pilot, Lokführer oder Fussballprofi würde ich sicherlich mehr punkten (lacht).

Curriculum vitae
Marcel Weber ist seit 2011 Professor für Wissenschaftsphilosophie an der Universität Genf. Der ursprünglich aus der Region Basel stammende Wissenschaftler studierte in den 1980er Jahren Molekularbiologie am Biozentrum. Danach wechselte er in die Wissenschaftsphilosophie und promovierte an der Universität Konstanz. Nach einem Postdoc an der University of Minnesota und mehreren Forschungsaufenthalten im Ausland wurde er 2009 als Professor für Theoretische Philosophie an die Universität Konstanz berufen.